Barbara Wendelken - Leseprobe

Leseprobe aus "Ihr einziges Kind"

Prolog

"Ich will dir was zeigen", hat Dustin in der Schule gesagt. "Nix für Babys. Und wehe, du hältst nicht den Mund. Dann bist du tot."

 

Dann bist du tot. Dustin sagt andauernd solche Sachen und Philipp zweifelt keine Sekunde daran, dass sein Freund es ernst meint. Gruselig fühlt sich das an und gleichzeitig schrecklich schön, so wie Eis, das an den Zähnen pikst und trotzdem himmlisch schmeckt.

 

Philipp hat zu Hause gelogen, ohne schlechtes Gewissen, weil ihm nichts so wichtig ist wie die Freundschaft mit Dustin. "Ich will zu Ole", hat er behauptet. Seine Mutter mag Ole und findet es gut, wenn sie zusammen spielen, also hat sie genickt und nicht mal gefragt, ob Oles Eltern Bescheid wissen.

 

In Wahrheit ist er mit Dustin verabredet, an der blauen Bude, die früher mal ein Kiosk war und die jetzt schon ewig leer steht. Sie ketten ihre Räder aneinander, mit Philipps Fahrradschloss, Dustin besitzt so etwas nicht. Seine Mutter ist überzeugt, dass niemand Dustins alte Kiste klauen würde.

 

Sie laufen zu Fuß weiter, die Straße runter, bis keine Häuser mehr kommen, vorbei an dem alten Betonwerk, wo keiner mehr arbeitet, und das mit einem hohen Metallzaun und riesigen Vorhängeschlössern gesichert ist. Von dort an dürfen sie nicht mehr die Straße benutzen, sondern müssen sich seitlich in die Büsche schlagen. Niemand darf sie sehen.

 

Philipp weiß nicht genau, ob das ein Spiel ist oder ernst, aber er macht mit und versucht, nicht daran zu denken, was seine Mutter zu den schmutzigen Turnschuhen sagen wird, denn hinter den Büschen ist der Boden ganz weich und matschig und einmal sinkt er bis zu den Knöcheln ein. Es kommt ihm vor, als wäre er noch nie so glücklich gewesen. Dustin hat ihn zum Freund erwählt, dabei ist er schon neun und Philipp gerade erst acht geworden, ein Baby, wie sein großer Bruder Moritz immer behauptet.

 

Plötzlich bleibt Dustin stehen, er biegt ein paar Zweige beiseite und zeigt auf die Straße. Philipp sieht zuerst ein Verkehrsschild, dann eine tote Katze, schwarz mit weißen Flecken und ganz platt, als wären schon hundert Autos darüber gefahren.

 

"Ein Euro, wenn du sie anfasst. Ohne Handschuhe."

 

"Lieber nicht", flüstert Philipp. Allein der Gedanke, das Tier zu berühren, macht ihm Angst. Vielleicht hält Dustin ihn jetzt für einen Feigling, aber er bringt das nicht fertig.

 

"War nur ein Witz. Wir dürfen uns nicht auf der Straße sehen lassen", erklärt Dustin zu Philipps Erleichterung und stapft mit großen Schritten weiter. "Da vorn ist es." Seine Hand deutet auf ein Haus, das man vor lauter Bäumen und Büschen kaum erkennen kann. "Pssst, die dürfen uns nicht hören." Er hält den Zeigefinger vor seinen Mund.

 

Wer sind die, hätte Philipp gern gefragt, aber er muss ja den Mund halten, also nickt er nur und tut so, als würde er alles kapieren. Das ist sowieso am besten, immer so tun, als wüsste man Bescheid.

 

Sie kämpfen sich durch das Gestrüpp, bemüht um absolute Lautlosigkeit, und wenn doch ein Ast unter ihren Füßen knackt, zischt Dustin: "Idiot." Auch dann, wenn er selbst das Geräusch verursacht hat.

 

Als sie näherkommen, sieht Philipp, dass aus dem Dach des Hauses ein Baum wächst. In seinem Lieblingsbilderbuch gibt es auch so ein Haus mit einem Baum auf dem Dach, aber dort sind die Blätter rosa gefärbt. Man könnte denken, dass sie mitten in einem Märchen gelandet sind, in einer fremden, abenteuerlichen Welt, von deren Existenz niemand etwas ahnt, nur er selbst und Dustin, sein allerbester Freund.

 

Dustin stößt ihn in die Seite und zeigt auf einen dunklen Wagen, der seitlich neben dem Haus parkt. Anders als das Gebäude sieht er nagelneu aus. Daneben steht ein zweites Auto, gelb und klein. In dem großen Auto bewegt sich etwas. Philipp erkennt zwei Menschen, einen Mann und eine Frau. Was sie da machen, versteht er nicht, aber das ganze Auto wackelt. Dustin grinst, formt mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand einen Ring, in den er mit dem rechten Zeigefinger hineinstößt. Dabei nickt er.

 

Philipp kapiert überhaupt nichts. Was machen die beiden da, was will Dustin ihm mit dieser komischen Geste mitteilen? Er weiß nur, dass er kein Baby sein will, also nickt er ebenfalls mit wichtiger Miene und sagt: "Cool."

 

Irgendwann wird die Autotür aufgestoßen. Die Frau klettert heraus, sie hat auf dem Schoß des Mannes gesessen, was Philipp sehr seltsam findet. Seine Mutter setzt sich nie auf den Schoß seines Vaters, so etwas machen doch nur Kinder bei ihren Eltern. Außerdem ist die Frau nackt. Dabei ist es so kalt, dass Philipp eine Windjacke trägt und trotzdem an den Händen friert. Komisch sieht die Frau aus, ihre Arme und Beine sind ganz dünn, ihr Bauch dagegen kugelrund, richtig dick. Der Mann steigt jetzt ebenfalls aus, er macht seine Hose zu, beugt sich herunter und streift einen dunklen Pullover über den Kopf, den er vom Rücksitz geholt hat. Die Frau zerrt ihre Anziehsachen aus dem Auto und wirft sie mit Schwung über die Motorhaube, wie jemand, der sehr, sehr wütend ist. Dabei schreit sie: "Ich halt das nicht mehr aus!"

 

Jetzt zanken die beiden sich und ziehen sich gleichzeitig an. Die Frau kreischt so wie seine Mutter, wenn sie vor Wut beinahe platzt. Sie will nicht länger lügen, der Mann brüllt, dass sie sich zusammenreißen soll und dass es nicht anders geht und sie schreit: "Aber ich liebe dich nun mal!", und das gleich dreimal hintereinander und dann noch: "Er ist mir scheißegal!" Am Ende springt sie in das gelbe Auto und braust davon. Der Mann schaut ihr hinterher, setzt sich in den schwarzen Wagen und fährt ebenfalls fort, aber ganz sachte, als hätte er Angst, sein neues Auto schmutzig zu machen.

 

"Die treffen sich jeden Dienstag", sagt Dustin. "Zum Ficken. Hast du das schon mal gesehen?" Gesehen nicht, aber gehört. Ficken, das ist eins dieser Wörter, die alle benutzen, obwohl es verboten ist. Man muss so tun, als wüsste man, worum es geht, auch wenn man nicht die leiseste Ahnung hat. Erwachsene machen so was, das weiß Philipp, und auch, dass man keinen dabei zugucken lässt. Sicher treffen der Mann und die Frau sich deshalb heimlich an diesem Ort, wo Bäume durch das Dach wachsen und tote Katzen auf der Straße liegen.

 

"Alle Erwachsenen ficken", erklärt Dustin und er grinst wie einer, der das schon tausendmal gesehen hat. "So macht man nämlich Babys. Deine Eltern haben es auch gemacht, sonst wärest du nicht auf der Welt."

 

Das muss wohl stimmen. Aber Philipp mag sich so etwas von seinen Eltern nicht vorstellen. Bestimmt haben sie es nur zweimal gemacht, einmal haben sie danach Moritz, seinen großen Bruder bekommen, und beim zweiten Mal ihn. Mehr Kinder gibt es bei ihnen nicht und er ist irgendwie erleichtert darüber.

 

Auf dem Rückweg nehmen sie die Straße, weil es jetzt egal ist, ob jemand sie sieht. Um den Katzenkadaver machen sie einen großen Bogen. Philipp kann nicht erklären, warum, aber er ist froh, als sie die Häuser erreichen. An der blauen Bude löst er die Räder voneinander.

 

"Und?", fragt Dustin. Er grinst von einem Ohr zum anderen. "War doch Klasse, oder?"

 

Philipp nickt ehrfürchtig, weil ihm kein Wort einfällt, das groß genug scheint für eine Antwort.

 

"Wenn du irgendwem davon erzählst, bist du tot."

 

 

Dienstag, 28. Mai

In diesem Jahr war der Mai ungewöhnlich warm und trocken, ein früher Sommer, der dafür gesorgt hatte, dass die rote Bauernpfingstrose bereits in voller Blüte stand, zwei Wochen vor der Zeit. Jedes Mal, wenn Renke daran vorbeiging und der schwere Duft ihm in die Nase stieg, erinnerte er sich an seine Großmutter, an die Nachmittage in ihrem Garten, wo akkurat geschnittene Buchsbaumhecken die üppige Blütenpracht im Zaum hielten. Zwanzig Jahre nach ihrem Tod war wenig von der Pracht übrig geblieben, nur die Pfingstrose, die Schneeglöckchen, die Ende Februar einen weißen Teppich bildeten und ein purpurroter Phlox, der sich Jahr für Jahr durch das kniehohe Unkraut kämpfte, um triumphierend ein paar Blütenstängel in die Höhe zu strecken. Ansonsten hatten nur noch die Obstbäume überlebt, drei uralte Apfelsorten, deren Namen er nicht kannte, eine Birne und zwei Pflaumen. Die Kirschbäume, deren Früchte er als Junge so geliebt hatte, waren eingegangen. Vielleicht würde er nächstes Jahr neue setzen.

Hauptkommissar Renke Nordmann, Leiter des Polizeireviers Martinsfehn, sperrte den Wohnwagen ab, in dem er seit ein paar Wochen lebte. Das Schloss würde keinem ernsthaften Einbruchsversuch standhalten, doch in dem Wagen befand sich nichts, das einen Diebstahl lohnte. Er freute sich auf den ersten Kaffee im Revier.

Zwei Stunden später hatte er noch immer keine Zeit für einen Morgenkaffee gefunden. Dreimal hatte es in den frühen Morgenstunden bereits geknallt, ein Auffahrunfall direkt vor dem Schulzentrum, ein Crash auf dem Parkplatz am Rathaus und gerade kam er zurück vom Marktplatz, wo jemand vor der Bäckerei dem Postauto die Vorfahrt genommen hatte. Zum Glück gab es nur verbeultes Blech, aufgeheizte Gemüter und einen uneinsichtigen Achtzigjährigen, der den Postboten unflätig beschimpfte, wobei hirnloser Trottel noch das Harmloseste war. Renke warf seine Dienstmütze auf den Schreibtisch und steuerte die kleine Teeküche an, als das Telefon erneut klingelte.

"Polizeirevier Martinsfehn, Hauptkommissar Nordmann."

"Renke? Hier ist Cord. Cord Cassjen. Bei uns zu Hause ist vielleicht etwas Schlimmes passiert. Kannst du bitte vorbeikommen? Allein? Und schnell?" Er legte einfach auf.

Vielleicht etwas Schlimmes, das klang ziemlich schräg und konnte alles Mögliche bedeuten. Auf jeden Fall hatte Cord Cassjen, inzwischen Dr. Cord Cassjen, gehetzt geklungen, womöglich sogar verzweifelt. Renke versuchte, sich einen verzweifelten Cord vorzustellen, es wollte ihm aber nicht so recht gelingen, in seiner Erinnerung war Cord vor allem arrogant, selbstgefällig und sehr auf seine Außenwirkung bedacht. Kurz entschlossen rief er die gespeicherte Nummer wieder an.

"Renke hier, könntest du etwas konkreter werden?"

"Komm einfach." Erneut ertönte das Freizeichen.

Das passte schon eher zu dem Cord, den er kannte. Für einen Moment zog Renke in Erwägung, den Anruf zu ignorieren oder einen Kollegen zu schicken. Komm einfach, was sollte das bitte sehr heißen? Er war schließlich nicht Cords Angestellter. Doch die Neugierde siegte. Wenn Cord in Schwierigkeiten steckte, und so ließ sich der Anruf durchaus interpretieren, wollte er das gern live miterleben. Es passte zu Cord, dass er es nicht einmal für nötig befand, seine Adresse anzugeben, als wäre es Renkes Pflicht, zu wissen, wo jeder Einwohner von Martinsfehn wohnte. Bei Cord wusste er es natürlich, sein nagelneues Protzhaus stand in der sogenannten Blumensiedlung. Geranie, Sonnenblume, Heckenrose, Dahlie, Primel, sie alle hatte die Gemeinde Martinsfehn mit einer Straße bedacht. Wenn er sich nicht sehr täuschte, wohnte Cord in der Dahlienstraße.

Kurz schaute Renke sich in der Revierstube um. Jens Stiller tippte einen Bericht, David Strehlitz und Sandra Weiß nahmen im Nebenzimmer mehrere Zeugenaussagen zu einer Discoschlägerei auf, was sich der Lautstärke der Stimmen nach zu urteilen chaotisch gestaltete, und Lorenz Bäumer war unterwegs.

"Das war Dr. Cassjen, der hat ein Problem, das er am Telefon nicht besprechen möchte. Bis gleich." Im Vorübergehen setzte Renke seine Dienstmütze auf. Unterwegs überlegte er, wann er zum letzten Mal mit Cord gesprochen hatte, ernsthaft gesprochen. Man sah sich dann und wann auf der Straße, hob grüßend die Hand, rief sich auch mal ein Moin zu, aber das war es auch. Das letzte Mal, dass sie wirklich miteinander geredet hatten, musste Jahre zurückliegen und Renke konnte sich beim besten Willen nicht an den Inhalt des Gesprächs erinnern. Vermutlich hatte es auf einem Klassentreffen stattgefunden, in einer Zeit, in der seine Frau Britta schon so krank war, dass kaum jemand wagte, ihn auf sein Privatleben anzusprechen.

Renke und Cord Cassjen kannten sich aus der Schule, waren aber alles andere als Freunde gewesen. Cord, der einzige Sohn des Spirituosenfabrikanten Cassjen, ließ keine Gelegenheit aus, mit dem Geld seines Vaters zu protzen. Pünktlich zum achtzehnten Geburtstag bekam er ein eigenes Auto vor die Tür gestellt, einen fabrikneuen VW-Golf mit Sonderlackierung, während der Sohn des Postboten in den Ferien jobben musste, damit er sich einen gebrauchten Renault leisten konnte. Ihre Freundeskreise berührten sich nicht und sie hatten einander wenig zu sagen. Nachdem sich abzeichnete, dass Cord das Abitur nicht schaffen würde, wiederholte er die letzte Klasse auf einer Privatschule in der Nähe von Osnabrück, wo er die Reifeprüfung im zweiten Versuch ablegte und das offenbar mit so einem guten Notenschnitt, dass er anschließend Medizin studieren konnte, was sowohl die Lehrer als auch seine ehemaligen Mitschüler überraschte. Irgendwann in dieser Zeit starb Cords Vater. Es hieß, er hätte sich totgesoffen, was irgendwie passend erschien für einen Spirituosenfabrikanten.

Cords Haus, ein zweieinhalbstöckiger, blendend weißer Klotz mit einem dunkelgrünen Pultdach, wirkte genauso selbstgefällig wie sein Besitzer. Renke erinnerte sich an eine heftige Debatte im Gemeinderat, weil viele meinten, so ein Haus würde nicht in die Siedlung passen, in der man ansonsten nur rote Klinker und rote oder graue Ziegeldächer sah, so wie es sich für ein typisch ostfriesisches Fehndorf gehörte. Aber wenn einer wie Cord Cassjen baute, musste es was Besonderes sein. Natürlich hatte er seinen Bauantrag durchgesetzt, denn der Lebensgefährte seiner Mutter, Erich Loening, hatte als Landrat überall seine Finger drin und konnte Dinge auf den Weg bringen, die den Normalsterblichen verwehrt blieben.

Bevor Renke klingeln konnte, wurde die Tür von innen aufgerissen. Cord sah aus, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt. Sein rundliches Gesicht glänzte verschwitzt, das dunkle Haar, dessen Ansatz deutlich zurückwich, was Renke mit heimlicher Schadenfreude erfüllte, stand wirr vom Kopf ab und unter den Armen seines weißen Polohemdes zeichneten sich riesige Schweißflecke ab.

"Gott sei Dank. Komm rein." Er warf einen gehetzten Blick über Renkes Schulter. "Muss der Wagen da stehen?" Dann fiel ihm wohl selbst auf, wie dumm diese Frage war, schließlich hatte er selbst die Polizei gerufen, und die fuhr nun einmal im Dienstwagen vor. "Ist ja auch egal." Es klang resigniert.

Drinnen sah es genauso aus, wie man es erwarten durfte. Bodenfliesen mit teuer aussehenden Einlegearbeiten, weiß gekalkte Wände, eine freitragende Treppe aus dunklem Holz, die ins Obergeschoss führte und deren Stufen keinen Laut von sich gaben, wenn man den Fuß darauf setzte. Der erste Stock bestand aus einem einzigen riesigen Raum. Wenige, vermutlich exklusive Möbel, darunter eine riesige Wohnlandschaft aus dunkelrotem Leder, große Gestecke aus künstlichen Blumen und Licht, sehr viel Licht. Vor einem der Fenster stand ein weißer Ruhesessel, ebenfalls aus Leder, mit passendem Fußhocker. Dort saß eine Frau, vermutlich Cords Gattin, die auf den ersten Blick unglaublich jung wirkte, geradezu erschreckend jung, wenn man bedachte, dass Cord neununddreißig sein musste, genau wie Renke, vielleicht auch schon vierzig. Schulterlanges, blondes Haar und ein schmales Gesicht mit auffällig hohen Wangenknochen. Eine gut aussehende junge Frau, wenn sie nicht so stumpfsinnig ins Leere gestarrt hätte. Das einzig Lebendige an ihr schien das leuchtende Blau ihres Kleides zu sein, ansonsten wirkte sie wie versteinert. Ihre Hände hielt sie auf dem Schoß gefaltet, als wäre sie in ein stilles Gebet vertieft. Sie schaute nicht auf, als Renke sie mit dem obligatorischen Moin begrüßte. Neben ihr stand ein blassgrüner Kinderwagen, das Kissen mit dem blaugrün karierten Bezug hing über dem Griff. Ein flüchtiger Blick verriet, dass kein Baby in dem Wagen lag.

"Setz dich", sagte Cord und deutete auf eine Essgruppe aus dunklem Holz, die mitten im Raum stand, unter einer avantgardistischen Leuchte, die aussah wie ein weißer Kelch, aus dem auf grauen, biegsamen Metallstielen blaue und dunkelrote Glasblüten wuchsen, mit jeweils einer LED-Birne in der Mitte. Die Lampe hätte Renke gern mal am Abend gesehen.

"Ich will es kurz machen. Wir haben einen Sohn, Caspar, er ist sieben Tage alt. Und verschwunden."

"Er wurde entführt?"

"Ich glaube nicht." Im selben Moment fiel Cord wohl selbst auf, wie verrückt seine Antwort sich anhörte. "Silvana sagt, sie hätte ihn weggebracht, weiß aber nicht mehr wohin." Seine Stimme wurde laut und aggressiv. "Das hast du doch gesagt, Silvana! Dass du ihn nicht mehr wiederfindest!"

Im Zeitlupentempo hob die junge Frau den Kopf. "Er hat ihn geholt." Sie streckte die linke Hand aus und schaukelte den Wagen, als müsste sie ein schreiendes Baby beruhigen.

"Wer hat ihn geholt?", fragte Renke mit sanfter Stimme.

"Er ", hauchte sie und schaute sich verstohlen um, als wäre es verboten, den Namen laut auszusprechen.

"Sie ist krank", flüsterte Cord heiser. "Das merkst du doch, oder? Seit der Geburt ist sie völlig irre im Kopf." Mit der linken Hand machte er kreisende Bewegungen vor seiner Stirn. "Postpartale Psychose nennt man das."

Die Art, wie er das sagte, gefiel Renke nicht. So abwertend äußerte man sich nicht über seine Ehefrau, nicht mal, wenn man Dr. Cord Cassjen hieß und die Frau offensichtlich psychisch gestört war. Renkes Blick wanderte zwischen Cord, der jetzt aussah wie ein trotziger Junge, der am liebsten mit dem Fuß aufstampfen würde, und seiner Frau hin und her. Keiner der beiden wirkte glaubwürdig. Das mit dem Kind stimmte jedoch, die riesige Geburtsanzeige in der Zeitung war ihm am Samstag aufgefallen. Unser Glück ist vollkommen, oder irgend so ein klischeehafter Quatsch. Und jetzt war das vollkommene Glück verschwunden, Frau Cassjen hatte es verkramt.

"Also, noch mal zum Mitschreiben. Euer Sohn ist verschwunden. Und das steht fest. Du hast überall nachgeschaut."

Mit beiden Händen fuhr Cord durch sein schütteres Haar, dann verknotete er die Finger im Nacken, hob den Kopf und starrte zur Zimmerdecke. "Ja, verdammt. Ich habe das ganze Haus durchsucht, auch die Garage. Caspar ist nicht da."

"Er hat ihn geholt." Silvana Cassjen stand auf und durchquerte mit merkwürdig steifen Schritten den Raum.

Renke fühlte sich an einen schreitenden Vogel erinnert, einen Marabu oder einen Storch. Jetzt erst konnte man sehen, wie schmal sie gebaut war. Umso deutlicher fiel ihr immer noch stark vorgewölbter Bauch auf, beinahe konnte man denken, dass sich noch ein weiteres Kind darin befand. Sieben Tage nach der Geburt war das vermutlich normal.

"Bleib stehen, das macht mich verrückt. Und halt um Himmels willen die Klappe!", brüllte Cord. Erschrocken hielt er inne. "Entschuldige, Renke, aber das ist ein bisschen viel für mich. Meine Nerven flattern." Er schniefte und Renke fragte sich, ob er gleich losheulen würde, so wie früher in der Grundschule, wenn er nicht ein noch aus gewusst hatte, weil die anderen Jungs ihre derben Späße mit ihm trieben. Heutzutage nannte man das Mobbing. "Caspar ist noch so klein, gerade erst geboren. Der braucht seine regelmäßigen Mahlzeiten. Was mach ich bloß?"

"Nichts. Du hast die Polizei gerufen, und das war richtig. Wir werden Haus und Grundstück durchsuchen, die Nachbarn befragen und vor allem deine Frau. Am besten ziehen wir einen Therapeuten hinzu. Der kriegt vielleicht mehr aus ihr raus." Er griff nach dem Handy.

"Halt. Warte. Lass uns erst noch einmal nachsehen, bevor die ganze Artillerie hier aufmarschiert. Gestern Abend hat sie ihn im Kleiderschrank versteckt." Mit zwei Fingern tippte Cord rhythmisch gegen seine Schläfe. Ein weiterer Ausdruck dafür, dass er seine Frau für durchgeknallt hielt. "Aber dort ist er nicht, da hab ich zuerst nachgeschaut." Als Renke zögerte, fasste er mit beiden Händen nach seinem Unterarm. "Bitte, Renke, lass uns noch einmal zusammen suchen."

Warum er einwilligte, wusste Renke selbst nicht. Vielleicht, weil die Frau ihm leidtat, die jetzt mit einem harschen: "Und du bleibst so lange hier sitzen!" zurechtgewiesen wurde.

Im ganzen Haus fand sich keine Spur von Caspar Cornelius Cassjen. Renke forderte um dreizehn Uhr fünfzig die Kollegen von der Kripo Leer an.

 

Nola van Heerden, Oberkommissarin bei der Kripo in Leer, saß total verkrampft hinter dem Steuer des Dienstwagens, ihre Hände waren feucht und gleichzeitig eiskalt und ihr Magen fühlte sich an, als hätte jemand flüssigen Beton eingefüllt, der jetzt zu einem harten, schweren Klumpen trocknete, der beim Atmen gegen die Bauchdecke stieß. Ein verschwundener Säugling, hatte Renke am Telefon gesagt. Säuglinge verschwanden nicht einfach so, schließlich konnten sie sich nicht selbstständig fortbewegen und leider Gottes sprachen alle Statistiken dafür, dass Vater oder Mutter oder, schlimmer noch, beide ihrem Baby etwas angetan hatten, was sie jetzt zu vertuschen suchten, indem sie eine abstruse Räuberpistole erfanden, wie eine Entführung, nur dass der Entführer sich niemals melden würde. Unentwegt musste sie an einen ähnlich gelagerten Fall denken, den sie vor zwei Jahren in Hannover erlebt hatte. Vor laufenden Kameras hatte die junge Mutter den vermeintlichen Entführer angefleht, das Kind zurückzugeben. Drei Tage später stellte sich heraus, dass sie den Kleinen zu Tode misshandelt und dann in der Sporttasche ihres Mannes im Garten vergraben hatte. Eine furchtbare Geschichte, die die ermittelnden Beamten noch lange beschäftigte. Der verschwundene Säugling in Martinsfehn war erst wenige Tage alt und Nola grauste es vor dem, was sie herausfinden würde. Neben ihr versuchte Conrad Landau, ihr Partner, vergeblich den Reißverschluss seines Parkas zu schließen, dessen ursprüngliches Dunkelblau sich über die Jahre in einen fahlen, undefinierbaren Farbton verwandelt hatte, den Nola am ehesten als dreckiges Blaugrau beschreiben würde.

"Kaputt? Prima. Dann kannst du das versiffte Teil ja endlich wegschmeißen und was Vernünftiges kaufen. In der Jacke siehst du aus wie der letzte Penner! Das hab ich dir schon tausendmal gesagt. Was sollen die Leute denken, wenn du so auftauchst?"

"Spinnst du? Die Jacke ist noch tadellos", maulte Conrad. Nolas Partner trank seit Jahren mehr als ihm guttat und wie viele Trinker legte er wenig Wert auf sein Äußeres. Schon mehr als einmal hatte Nola sich geschämt, mit einem derart abgerissenen Kollegen in der Öffentlichkeit aufzutauchen.

Conrad konnte stundenlang vor sich hin schweigen und ihr dann mit einer einzigen, boshaften Bemerkung den ganzen Tag verderben. In seinen Augen war sie übermotiviert, krankhaft ehrgeizig und geltungssüchtig, also sein genaues Gegenteil. Kein Wunder, dass es dauernd zwischen ihnen krachte.

"Wieso trägst du überhaupt noch deine Winterjacke?", fragte sie schließlich, weil seine hektische Fummelei an dem Zipper des Reißverschlusses, begleitet von leisen Flüchen, sie nervte.

"Blöde Frage. Mir ist kalt."

"Kalt?", lachte Nola ungläubig. Der Himmel erstrahlte in leuchtendem Sommerblau und das Außenthermometer des Dienstwagens zeigte dreiundzwanzig Grad. Für Nola hatte der Sommer begonnen und für die meisten anderen Menschen auch. In der Stadt stellten die Wirte Tische und Stühle raus und vor der Eisdiele bildete sich um die Mittagszeit eine Schlange.

"Sie haben Ihr Ziel auf der linken Straßenseite erreicht", quäkte die monotone Frauenstimme des Navigationsgerätes, sie hatte sogar einen Namen, der allerdings nicht zu ihr passte. Susi. Immerhin beendete Susi ihren Disput.

Das Haus in der Dahlienstraße, in dem das Kind verschwunden sein sollte, überragte alle anderen Gebäude in der Neubausiedlung um ein halbes Stockwerk. Für Nola sah es aus wie ein aufrecht stehender Legostein mit einem schiefen, grünen Dach, auch wenn es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Architektenhaus der oberen Preisklasse handelte.

"Typisch. In den dicksten Häusern wohnen die größten Schweine. Da musst du mal drauf achten." Conrad hatte seine Reparaturversuche inzwischen aufgegeben. Er strich seine grauen Haare mit gespreizten Fingern zurück, dann kratzte er sich ausgiebig an Wange und seinem schlecht rasierten Kinn und räusperte sich mehrmals hintereinander. Er war nervös, genau wie sie selbst. "Mach dir bloß keine Hoffnungen", stieß er hervor. "Der Kleine ist längst tot."

"Das wissen wir doch noch gar nicht", hielt Nola trotzig dagegen, obwohl sie insgeheim dasselbe befürchtete.

"Nola! Sei doch nicht so verdammt naiv. Die Geschichte stinkt zum Himmel. Säuglinge verschwinden nicht einfach spurlos!"

So schlau war sie selbst. Dennoch war sie nicht bereit, schon im Vorfeld alle Hoffnung aufzugeben. "Lieber naiv, als so ein ewiger Schwarzseher wie du! Und jetzt komm." Sie schob die Ärmel ihrer grün gemusterten Strickjacke hoch, die so locker saß, dass ihre Dienstwaffe nicht gleich auffiel, und marschierte los, ohne sich noch einmal nach Conrad umzudrehen.

Ein Mann öffnete die Tür. Gewohnheitsmäßig scannte sie seine Erscheinung. Mittelgroß, dunkles Haar, das bereits dünner wurde, ein harmloses Kindergesicht mit vollen Lippen, leichter Bauchansatz, unvorteilhaft betont durch ein zu eng sitzendes Poloshirt. Dazu eine weiße Hose, wie Ärzte sie während der Arbeit trugen, und teure italienische Schuhe, die vorn spitz zuliefen. Total verschwitzt. Sie war froh, dass er nicht auf die Idee kam, ihr seine feuchte Hand zu reichen.

"Dr. Cassjen", stellte er sich vor. Ihre Dienstausweise schaute er nicht an. "Kommen Sie herein, Renke ist schon da."

Aus dem Eingangsbereich ging es über eine freitragende Treppe nach oben ins Wohnzimmer, das das gesamte Stockwerk einzunehmen schien, jedenfalls konnte Nola keine Tür entdecken, nur die Treppe, die in den zweiten Stock weiterführte. An den Außenwänden des nahezu quadratischen Wohnraums gab es jeweils drei schmale, bis zum Boden reichende Fenster. Statt Gardinen waren weiße Plisseejalousien angebracht, die sich nach Belieben rauf- und runterziehen ließen. Jetzt waren sie hochgezogen und gaben den Blick frei auf einen Balkon, der rund um das Haus verlief. Das Geländer aus grün gestrichenem Metall erinnerte Nola an ein Baugerüst. Eine Stahltreppe führte runter in den Garten, der aus einer leuchtend grünen, fast schon künstlich wirkenden Rasenfläche, ein paar ebenso grünen Büschen und einem hohen Sichtschutzzaun bestand, weiß mit grünen Pfosten, auf denen dicke weiße Holzkugeln thronten. Nichts Blühendes.

Renke saß mit dem Rücken zu Nola am Esszimmertisch und gleich legte ihr Herz einen Trommelwirbel ein. Ihm gegenüber kauerte eine blonde Frau auf einem Stuhl, der einen halben Meter vom Tisch entfernt stand, so, als würde man sie nicht am Tisch dulden. Sie war sehr jung, beinahe noch ein Mädchen, vermutlich handelte es sich um die Mutter. Als hätte er ihren Blick gespürt, drehte Renke den Kopf und schaute ihr entgegen. Für einen Moment war Nola abgelenkt, doch sie rief sich sofort zur Ordnung. Sie war nicht hier, um über Renke Nordmann nachzudenken, über das unglaublich intensive Blau seiner Augen, über die Art, wie er sie anschaute, oder ob sein kühles Lächeln mit dem verschwundenen Baby zu tun hatte oder mit ihr.

"Moin. Das hier sind Dr. Cassjen und seine Frau. Ihr sieben Tage alter Sohn ist spurlos verschwunden."

Okay, den neutralen Dienstton hatte sie auch drauf. Sie griff nach ihrem Notizbuch und zückte den Stift. "Wie lange schon?"

Die Antwort gab der Hausherr. "Heute gegen neun bin ich in meine Praxis gefahren, da war er noch da. Ich bin Arzt, Urologe", fügte er an. "Meine Praxis liegt in Leer. Um halb elf hat meine Frau mich angerufen und gesagt, dass sie Caspar nicht mehr finden kann. Meine Frau!"

Mit einer Handbewegung brachte Renke ihn zum Schweigen. Dann nickte er Frau Cassjen auffordernd zu.

Weil sie nichts sagte, ergriff Nola das Wort. "Frau Cassjen, vielleicht könnten Sie uns erzählen, was passiert ist."

"Er war hier, er hat ihn geholt." Die Stimme klang unerwartet dunkel, ein bisschen heiser und völlig emotionslos. So, als stünde sie unter dem Einfluss starker Beruhigungsmittel, was noch zu klären war.

"Wer?"

Nolas Frage schien die Frau zu verwirren. Hatte sie ihre eigenen Worte schon wieder vergessen? Sie grübelte und sagte dann: "Weiß ich nicht mehr. Erich?" Es klang wie eine Frage.

"Wer ist Erich?"

"Der Lebensgefährte meiner Mutter", erklärte Dr. Cassjen, es klang ungeduldig. "Silvana, das ist doch Blödsinn. Warum sollte Erich denn Caspar abholen?"

Keine Antwort. Frau Cassjen zupfte ein paar Ponysträhnen in ihre Stirn, dann schob sie den Stuhl noch weiter zurück, schlug die Beine übereinander und ließ den rechten Fuß kreisen. Sie trug keine Schuhe und aus einem Loch in ihrer Strumpfhose ragte der große Zeh heraus. Irgendwie war klar, dass ihr das unter normalen Umständen peinlich gewesen wäre, niemand der so ein Haus bewohnte lief derart schludrig herum, doch jetzt schien sie es gar nicht wahrzunehmen. Überhaupt machte die junge Frau einen eher ungepflegten Eindruck, das Haar war am Ansatz fettig und nicht gekämmt und in ihren Augenwinkeln klebte helles Sekret. Sie sah aus, als käme sie direkt aus dem Bett und hätte noch keinen Blick in den Spiegel geworfen. "Er hat ihn geholt", wiederholte sie unbeirrt.

"Vielleicht könnten Sie diesen Erich anrufen?", schlug Nola vor. Erstaunlich, dass noch niemand darauf gekommen war.

"Das ist doch völliger Unsinn." Beifall heischend schaute Dr. Cassjen sich um. Als niemand ihm beipflichten wollte, fingerte er, begleitet von einem resignierten Seufzen, ein Smartphone aus seiner Hosentasche und gab eine Nummer ein. "Mama? Hier ist Cord. Sag mal, war Erich heute Morgen hier? Nicht? Gestern vielleicht? Auch nicht. Das kann ich jetzt nicht erklären, wir haben ein Problem, ich melde mich später; nein, jetzt geht es nicht." Er legte auf. "Er war nicht hier."

Nola ging neben Frau Cassjen in die Hocke, damit sie ihr ins Gesicht schauen konnte, und nahm dabei einen leicht säuerlichen Körpergeruch wahr. "Haben Sie gehört? Erich war weder gestern noch heute zu Besuch."

"Er kommt überall rein. Ich glaube, er kann durch Wände gehen." Sie kicherte und schlug sich dabei mit der Hand auf den Mund, so heftig, dass die Zähne aufeinander klackten.

"Und heute Morgen war er hier?" Nola wusste selbst nicht, warum sie das fragte. Natürlich konnte dieser Mann nicht durch Wände gehen. Wer das behauptete, sagte vermutlich auch sonst nicht die Wahrheit.

Die Frau nickte zögernd. "Er hat mein Baby geholt."

"Wer?", wiederholte Nola sanft.

"Er. Den Namen darf ich nicht verraten." Sie legte die Hand seitlich gegen ihren Mund, als wären die nächsten Worte nur für Nola bestimmt, vergaß aber, die Stimme zu senken, sodass jeder im Raum mithören konnte. "Er ist nämlich Caspars Vater, aber das darf niemand wissen."

Das war entschieden zu viel für Dr. Cassjen. "Jetzt ist aber Schluss! Bist du völlig übergeschnappt? Was redest du denn da für einen Blödsinn?" Hilfe suchend schaute er sich um. Sein Blick blieb an Nola hängen. "Sie ist total durchgeknallt, das merken Sie ja wohl selbst. Eine ausgewachsene Wochenbettpsychose. Verdammt noch mal, Silvana, was hast du mit unserem Kind gemacht?" Für einen Moment sah es aus, als ob er sich auf seine Frau stürzen wollte.

Conrad, der bislang noch kein Wort gesagt hatte, hielt ihn zurück, indem er sich einfach nur in den Weg stellte und die Arme ganz leicht anhob. "Nun mal ganz langsam."

Auch Renke war mit einem Satz auf den Beinen und stellte sich schützend vor den Stuhl mit der jungen Frau. "Beruhige dich bitte, Cord. Du sagst doch selbst, dass sie krank ist." Seine nächsten Worte galten Nola. "Ich hab zusammen mit Dr. Cassjen das gesamte Haus und die Garage durchsucht. Ergebnislos."

Alles entwickelte sich genauso wie erwartet, vielleicht sogar noch schlimmer. Die Frau war ganz offensichtlich nicht zurechnungsfähig und Nola mochte sich gar nicht vorstellen, was mit ihrem Sohn passiert war. "Ich bestelle zuerst die Hunde. Und dann brauchen wir einen Arzt für Frau Cassjen. Gut möglich, dass eine stationäre Einweisung notwendig ist." Wenn wir Glück haben, bringt man sie dort zum Reden. Mühsam unterdrückte Nola den Drang, die junge Frau durchzuschütteln, sie aus ihrer Lethargie zu reißen. Der Gedanke, dass die Rettung des Babys von einer geistig verwirrten Frau abhing, machte sie schier wahnsinnig und sie fragte sich, wie Renke so ruhig bleiben konnte, als hätten sie alle Zeit der Welt.

Ein harmonischer Dreiklang erfüllte den Raum.

"Es klingelt", sagte Dr. Cassjen überflüssigerweise. "Ich schau nach."

Nola zog sich einen Stuhl heran und setzte sich direkt neben die Mutter des vermissten Kindes, so nah, dass ihre Knie sich berührten. Sie griff nach der leblosen Hand, die eiskalt war, und streichelte behutsam mit dem Daumen darüber. "Frau Cassjen", sagte sie eindringlich. "Wann haben Sie Caspar denn zuletzt gesehen? Können Sie sich daran erinnern?"

Eifriges Kopfnicken. "Ich hab ihn gestillt. Er ist dabei eingeschlafen und ich hab ihn in den Wagen gelegt. Dann bin ich hoch ins Schlafzimmer. Ich bin immer so müde." Sie legte den Kopf schief und lächelte Nola an. "Am liebsten würde ich den ganzen Tag schlafen. So ein Baby ist anstrengend."

"Das glaube ich gern. Haben Sie den Kinderwagen rausgestellt? Vielleicht auf den Balkon?"

"Nein!", rief sie erschrocken. "Caspar darf nur raus, wenn die Sonne scheint. Sonst ist es zu kalt für ihn." Es klang wie auswendig gelernt.

Nola vermied einen Hinweis auf den strahlendblauen Himmel und die frühsommerliche Wärme. "Und wie war das Wetter heute Morgen?", fragte sie stattdessen.

Man sah, dass die Frau angestrengt überlegte, dann schüttelte sie resigniert den Kopf. "Weiß ich nicht mehr."

"Das kann ja mal passieren", sagte Nola freundlich. Ruhe bewahren war jetzt wichtig, sie durfte die Frau weder verschrecken noch gegen sich aufbringen. "Sie haben sich also noch mal hingelegt. Oben. Und Caspar war hier im Kinderwagen?"

Die Antwort bestand aus einem hilflosen Lächeln. Als Nächstes hob Silvana Cassjen den Kopf und schaute über Nolas Schulter. Ihre Augen weiteten sich und sie begann zu weinen, zuerst nur leise, dann immer heftiger, bis ihr ganzer Körper von heftigen Schluchzern geschüttelt wurde. Sie ballte die rechte Hand zur Faust, führte sie zum Mund und biss auf die Fingerknöchel, um die Laute, die aus ihrer Kehle drangen, zu ersticken.

Vorbei, sie würde nichts mehr sagen, Mist. Nola drehte sich um. Gemeinsam mit Cord Cassjen hatte ein Ehepaar in mittleren Jahren den Raum betreten. Die Frau, die Nola für seine Mutter hielt, war klein und dünn, fast schon mager. Ihre übertriebene Gesichtsbräune verriet die eifrige Sonnenanbeterin. Glattes, in der Mitte gescheiteltes Haar fiel ihr auf die Schultern, es war schwarz und ganz offensichtlich gefärbt. Ihr signalrotes Strickkleid endete eine Handbreit über den Knien und sie trug geschnürte Stiefelletten, deren hohe Absätze unangenehm laut auf die Fliesen knallten. Obwohl der Mann, den Nola für ihren Lebensgefährten hielt, sie um mehr als Haupteslänge überragte, war sofort klar, wer in diese Beziehung das Sagen hatte.

"Margit Cassjen." Schiefergraue Augen, eingerahmt von dicken Balken aus schwarzem Kajal, musterten die drei anwesenden Polizisten, bei Renkes Anblick nickte sie flüchtig. "Moin, Renke, lange nicht gesehen. Was ist hier passiert?" Anstatt zu antworten, wies Renke mit der Hand auf Nola. "Darf ich vorstellen: Kriminaloberkommissarin van Heerden von der Kripo Leer. Und das ist Kriminaloberkommissar Landau."

Ein Zucken im rechten Mundwinkel verriet, dass Frau Cassjen lieber mit Renke gesprochen hätte, sicher, weil sie ihn kannte und wie selbstverständlich duzte. "Also? Was ist vorgefallen?"

Nola beschloss, gleich die Fronten zu klären. Und dazu gehörte es, klarzustellen, wer hier die Fragen stellte. "Sie sind die Mutter von Herrn Cassjen? Und das ist ...?"

"Mein Lebensgefährte." So wie sie das betonte, schien es ihr wichtig zu sein, dass sie nicht mit ihrem Begleiter verheiratet war. "Und ich möchte gern wissen ..."

Ungerührt schnitt Nola ihr das Wort ab. "War einer von Ihnen heute Morgen hier im Haus?"

"Nein", erwiderte die Dame in Rot ungeduldig. "Und jetzt wüsste ich wirklich gern, warum die Polizei hier ist, Renke."

Nun schaltete sich ihr Lebensgefährte in das Gespräch ein. "Margit, du hörst doch, die Kommissarin aus Leer ist zuständig." Seine dunkle, angenehme Stimme klang beruhigend, doch seine Lebensgefährtin war nicht bereit, sich beschwichtigen lassen.

"Ich kenne Renke seit seiner Kindheit", fuhr sie ihn an. "Und er ist Polizist hier bei uns in Martinsfehn, oder etwa nicht? Warum soll ich nicht mit ihm reden?"

Der Mann errötete und Nola fragte sich, ob es daran lag, dass seine Lebensgefährtin ihn vor allen Leuten zurechtwies oder ob es ihm peinlich war, wie sie sich aufführte. An seiner Stelle wäre ihr beides unangenehm gewesen. So unauffällig wie möglich musterte sie ihn. Graues Haar, nach hinten gekämmt und ein bisschen länger als für einen Mann seines Alters üblich, ein sorgfältig gestutzter Vollbart, ein hellgrauer Anzug, der perfekt saß über einem blendenweißen Hemd, keine Krawatte, und die beiden obersten Hemdknöpfe offen. Ein auffälliger Ring auf dem kleinen Finger der linken Hand. Sie speicherte ihn ab als jemand, der auf seine Außenwirkung bedacht war.

Unterdessen versuchte Dr. Cassjen, die Aufmerksamkeit seiner Mutter auf sich ziehen, indem er sie anstarrte und, als das keine Wirkung zeigte, ansprach. "Caspar ist verschwunden." Offensichtlich fiel es ihm schwer, für das, was hier passiert war, die richtigen Worte zu finden. "Silvana kann sich nicht erinnern, wo er ist. Ich bin sofort nach Hause gekommen und ..."

Mit einem Blick brachte Frau Cassjen ihn zum Schweigen. "Caspar ist verschwunden? Das ist doch nicht möglich." Sie fuhr auf dem Absatz herum und schaute ihre Schwiegertochter fragend an. "Silvana, erklär uns das bitte."

Die Antwort der jungen Frau bestand aus einem lang gezogenen Klagelaut, aus dem tiefste Verzweiflung sprach.

Margit Cassjen nahm das zum Anlass, sich neben den Stuhl ihrer Schwiegertochter zu stellen und ihr mit den Fingerspitzen flüchtig über das Haar zu fahren. Das Rot ihrer Fingernägel harmonierte perfekt mit ihrem Kleid. "Ist ja gut", murmelte sie. "Das wird sich alles gleich aufklären. Konzentrier dich bitte. Das ist jetzt wichtig, immerhin geht es um dein Baby." In der Art, wie sie die letzten beiden Worte betonte, lag ein deutlicher Vorwurf.

"Ihre Schwiegertochter ist offenbar psychisch angeschlagen. Sie kann sich nicht erinnern", erklärte Nola, ohne die junge Frau aus den Augen zu lassen, die leise vor sich hin wimmerte.

"Was soll das denn bitte heißen?" Mit einer heftigen Bewegung stieß Margit Cassjen ihrer Schwiegertochter gegen die Schulter, die daraufhin erschrocken zusammenfuhr und die Augen aufriss. "Wie kann ein Baby verschwinden? Das ist doch Blödsinn. Silvana, jetzt sag endlich was. Wo ist Caspar?" Sie wirkte eher wütend als besorgt und Nola fragte sich, ob diese Frau wirklich nicht erkannte, dass die Mutter des Säuglings zu keiner logischen Antwort fähig war.

Als ihre Schwiegertochter nicht reagierte, hob sie den Kopf und fixierte nacheinander alle anwesenden Polizisten, bevor sie angriffslustig fragte: "Was wurde bis jetzt unternommen?"

Ehe Nola antworten konnte, blaffte Conrad: "Alles, was nötig ist. Oder dachten Sie, wir treffen uns hier zur Kaffeepause?"

Zu Nolas Überraschung reagierte Frau Cassjen nicht auf Conrads Angriff, als Ansprechpartner schien sie ihn nicht in Betracht zu ziehen. Ihr nächster Satz war an Nola adressiert. "Hören Sie mal, hier geht es nicht um irgendein Kind, hier geht es um meinen Enkelsohn. Und ich verlange, dass alles, wirklich alles getan wird." Ihre Hand schnellte vor, als wollte sie Nola am Arm packen, sie hielt aber mitten in der Bewegung inne, vielleicht weil Renke einen Schritt nach vorn machte oder weil ihr Begleiter "Mäßige dich bitte" murmelte.

"Wir werden alles tun, was nötig ist." Nola merkte, wie lahm das klang, doch sie war inzwischen sauer und hatte keine Lust, auf das Wohlbefinden der Angehörigen Rücksicht zu nehmen.

Im Augenwinkel registrierte sie, dass Frau Cassjen ihren Lebensgefährten unsanft anstieß, der daraufhin hilflos die Schultern hob. "Lass die Leute doch ihre Arbeit tun, Margit."

Genau das schien sie nicht vorzuhaben. "Offenbar wissen Sie gar nicht, wen Sie vor sich haben, junge Frau. Mein Lebensgefährte war bis vor Kurzem der Landrat des Kreises Leer. Erich Loening, der Name dürfte Ihnen ja wohl ein Begriff sein. Wir haben Verbindungen bis ganz nach oben."

"Ganz oben? Meinen Sie den da?" Mit ihrem Zeigefinger deutete Nola hoch zur Zimmerdecke und freute sich über das entrüstete Schnauben von Frau Cassjen, der es für einen Moment die Sprache verschlagen hatte, während ihr Lebensgefährte schmunzelte. "Schön für Sie. Und jetzt würden wir gern unsere Arbeit erledigen." Sie wandte sich nun direkt an den Landrat a.D. "Herr Loening, kann jemand bezeugen, wo Sie sich von heute Morgen acht Uhr bis zu diesem Zeitpunkt aufgehalten haben? Nur der Form halber, weil die Mutter des vermissten Säuglings Sie beschuldigt, den Kleinen mitgenommen zu haben."

Ganz Politiker ließ er sich nicht so leicht aus der Fassung bringen. "Mich?" Sein rechter Mundwinkel zuckte, dann lächelte er säuerlich. "Das ist wohl ein Scherz."

"Aber ein schlechter", sekundierte seine Lebensgefährtin. "Wie Sie uns gerade erklärt haben, ist Silvana nicht mehr bei Verstand. Warum nehmen Sie ihre Äußerungen überhaupt ernst?"

"Ich sprach davon, dass sie psychisch angeschlagen ist, was durchaus an dem Schock liegen kann." Sehr bewusst richtete Nola die nächsten Worte wieder an den ehemaligen Landrat. "Ich wiederhole meine Frage: Kann jemand bezeugen, wo Sie den Vormittag verbracht haben?"

Er lachte ungläubig. "Sie glauben ernsthaft, dass ich ... also wirklich. Aber gut. Solche Fragen gehören zu Ihrer Arbeit, das sehe ich selbstverständlich ein. Meine Lebensgefährtin kann bezeugen, dass ich zu Hause war."

"So ist es." Margit Cassjen rammte ihre Hände mit Schwung in die Seitentaschen ihres Kleides, sie wippte nach vorn und stellte sich auf Zehenspitzen. "Wir haben von acht bis Viertel vor neun gemeinsam gefrühstückt, wie jeden Morgen. Danach bin ich rüber in den Betrieb gegangen. Um neun ist unsere Putzfrau gekommen. Danuta wird bestätigen, dass Erich zu Hause war. Und falls Sie mich ebenfalls verdächtigen: Meine Mitarbeiter wissen, dass ich von kurz vor neun bis gerade eben im Büro war. Am besten fragen Sie meine Nichte, Tineke Veenstra. Sie ist meine rechte Hand und kennt jeden meiner Schritte." Beim Sprechen drehte sie den Kopf hin und her, wohl um deutlich zu machen, dass ihre Worte für alle Anwesenden bestimmt waren.

"Moment, ich muss mir eben die Namen notieren." Nicht, dass Nola den Landrat a.D. oder seine Lebensgefährtin ernsthaft der Kindesentführung verdächtigte, sie ärgerte sich einfach über das selbstherrliche Gebaren der beiden, vor allem die Frau benahm sich unmöglich und die Empörung in ihrem Gesicht bereitete Nola ein heimliches Vergnügen. "Veenstra? Würden Sie das bitte buchstabieren? Danke." Sie klappte ihr Notizbuch wieder zu. "Als Erstes werde ich Suchhunde anfordern." Es klang weitaus optimistischer, als Nola sich fühlte.