Barbara Wendelken - Berbertod

 


Eigentlich sieht es so aus, als würde das Leben es endlich einmal gut meinen mit dem 15-jährigen Daniel Feuerbach. Nach einer von Gewalt geprägten Kindheit und ein paar harten Monaten auf der Straße nehmen Dörthe und Hans ihn auf. Daniel gibt sich große Mühe, ihren Erwartungen zu entsprechen. Aber auf einer Geburtstagsfete trinkt er zu viel, es kommt zum Streit mit seiner Pflegemutter und er haut wieder einmal ab. Und dann steht in der Zeitung, dass am Bahnhof in Leer ein Obdachloser erstochen wurde - mit Daniels Messer. Hat er wirklich einen Mord begangen? Er kann sich nicht erinnern.

Hauptkommisar Thomas Weber leitet die Untersuchungen. Ihm wäre Daniel als Täter sehr recht, denn es mehren sich die Anzeichen, dass sein eigener Sohn Johannes in den Mord verwickelt sein könnte. Weber setzt alles daran, Daniel zu überführen.

"Ein einfühlsames Jugenddrama... Wendelken versteht es meisterlich, die Gefühle von  Jugendlichen zu vermitteln, die Beweggründe der Protagonisten begreiflich zu machen. " (Uwe Harms, Ostfriesen-Zeitung)


Leseproben:

Am Ende der Fußgängerzone liegt der Bahnhof, ein hübsches, altmodisches Gebäude mit hohen, halbrunden Fenstern, das man ziemlich kitschig in hellgelb und rosa gestrichen hat. Am Anfang musste Daniel immer an klebrigen Zuckerguss denken, aber jetzt hat er sich an den Anblick gewöhnt.

Auf dem Vorplatz sitzt ein Penner. Sein krauses, graues Haar wirkt verfilzt. Aber wie soll einer, der kein Badezimmer aufsuchen kann, sein Haar in Ordnung halten. Der Anblick des Obdachlosen lässt Daniels Temperatur auf einen Schlag um zehn Grad fallen. Sein rechter Fuß brüllt auf vor Schmerz und es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als sich  neben den Mann zu setzen, das Bein auszustrecken und ganz tief ein- und auszuatmen. Langsam, ganz langsam beruhigt sich der Schmerz. Der Berber rührt sich nicht. Er schaut nicht mal rüber. Klar, der kann sich gar nicht vorstellen, dass sich jemand für ihn interessiert, dabei hätte Daniel gern ein paar Worte gesagt. Der muffige Geruch des Mannes ist ihm nur allzu vertraut, genau wie sein leerer Blick. Ob er selbst auch so hoffnungslos ausgesehen hat?

„Hier Alter, hol dir n Bier.“ Daniel steht auf, kramt einen Euro aus seiner Manteltasche, drückt dem überraschten Mann das Geld in die Hand und geht eilig davon. Er vergisst sogar, seine Schritte zu zählen...

 

 ...Daniel Feuerbach hat vier Monate auf der Straße gelebt, von November bis Februar. Allerdings nicht in Hamburg, wie es seine Mitschüler glauben. Aus Hamburg ist er am dritten November abgehauen. Zuerst hat er es in Bremen versucht, dann in Weener, Ostfriesland. Wenn Daniel ehrlich ist, muss er zugeben, dass er sich alles viel zu einfach vorgestellt hat. Frei wollte er sein, sich von keinem mehr gängeln lassen, sorglos in den Tag hinein leben und vor allem nicht mehr grundlos verprügelt werden. Tatsächlich entpuppte sich das Leben auf der Straße als die Hölle. Kalt war es und einsam, mit großer Freiheit oder Abenteuer hatte es nichts zu tun. Es war einfach nur erbärmlich. Mit den anderen Obdachlosen kam er von Anfang an nicht klar. Daniel hatte ständig Angst. Dass Alkohol unberechenbar macht, wusste er ja von seinem Stiefvater. Und die meisten Berber waren ständig besoffen. Wie sonst sollten sie die ewige Kälte auch aushalten. Die Regeln auf der Straße sind streng, wer sie verletzt, wird rücksichtslos bestraft. Mitleid existiert nicht.

Einmal bezog der Junge heftige Prügel, weil er am falschen Platz schlafen wollte. Anfang Februar nahmen sie ihm seinen Daunenschlafsack weg. Das war noch in Bremen. Drei erwachsene Kerle gegen einen schmächtigen Jugendlichen, Daniel hatte absolut keine Chance. Dass er ohne den Schlafsack praktisch verloren war, interessierte keinen. Danach blieb er für sich allein.